Nach der Richtlinie 2010/63/EU (EU-Tierversuchsrichtlinie, s. dort Art. 36) dürfen Tierversuche an Wirbeltieren und Kopffüßern nur durchgeführt werden, wenn sie von der zuständigen Behörde vorher genehmigt worden sind. Kernpunkt dieses Genehmigungsverfahrens ist eine sog. Schaden-Nutzen-Analyse (s. Art. 38 Abs. 2 Buchstabe d). Mit ihr soll geklärt werden, „ob die Schäden für die Tiere in Form von Leiden, Schmerzen und Ängsten unter Berücksichtigung ethischer Erwägungen durch das erwartete Ergebnis gerechtfertigt sind und letztlich Menschen, Tieren oder der Umwelt zugute kommen können“.

Im österreichischen Tierversuchsgesetz (s. § 31 Abs. 4) ist vorgesehen, dass das zuständige Bundeswissenschaftsministerium bis zum 31. Dezember 2015 eine Verordnung mit „einem auf wissenschaftlichen Kriterien beruhenden Katalog zur Objektivierung der Schaden-Nutzen-Analyse“ veröffentlichen soll. Forscher, die die Genehmigung eines Tierversuchs beantragen, müssen die dort an sie gestellten Fragen beantworten, und die Genehmigungsbehörde soll anhand dieser Fragen und der dazu gegebenen Antworten den Schaden und den Nutzen des beantragten Tierversuches bewerten und so zu einer positiven oder negativen Projektbeurteilung gelangen.

Zur Vorbereitung dieser Verordnung ist am Messerli-Forschungsinstitut der Veterinärmedizinischen Universität Wien im Lauf von mehrjährigen Arbeiten ein Kriterienkatalog mit ursprünglich ca. 100 detaillierten Fragen ausgearbeitet worden. In die Ausarbeitung sind auch Vertreter von Forschung, Tierschutz und Verwaltung einbezogen worden. U. a. haben dazu im Sommer 2015 – unter Beteiligung der DJGT – verschiedene Beratungen in sehr pluralistischer Zusammensetzung stattgefunden.

Umso enttäuschender ist das, was nun vom österreichischen Wissenschaftsministerium vorgelegt wurde. Von den ursprünglich etwa 100 Fragen, die das Messerli-Institut zunächst entworfen hatte, sind nur noch ca. 10 (mit Unterpunkten) übrig geblieben.

Besonders bestürzend ist, dass nach § 2 Abs. 2 des vorgelegten Verordnungsentwurfs selbst diese wenigen Fragen bei Tierversuchen, die durch Gesetz, Verordnung oder EU-Rechtsakt vorgeschrieben sind, nicht beantwortet zu werden brauchen. Offenbar ist dem österreichischen Bundesministerium nicht bewusst, dass auch solche regulatorisch vorgeschriebenen Tierversuche einer Schaden-Nutzen-Analyse unterzogen werden müssen, die nach der EU-Tierversuchsrichtlinie nicht weniger gründlich ausfallen darf als bei allen anderen Tierversuchen (s. Art. 42 Abs. 2 Buchstabe b i. V. mit Art. 38). Durch die jetzt beabsichtigte Regelung entsteht der Verdacht, dass in Österreich bei regulatorisch vorgeschriebenen Tierversuchen entgegen der EU-Richtlinie keine oder allenfalls eine oberflächliche und rudimentäre Schaden-Nutzen-Analyse vorgenommen werden soll.

Weitere Kritikpunkte an dem vorgelegten Verordnungsentwurf sind: • Zur Bewertung des wissenschaftlichen Nutzens eines Tierversuchs gehört neben der Darstellung von Art, Ausmaß und Wahrscheinlichkeit des Nutzens immer auch die Frage, wie viele Personen vermutlich davon profitieren werden und innerhalb welchen Zeitraumes mit dem Eintritt des Nutzens gerechnet werden kann; auf entsprechende Fragen wird aber verzichtet;

• zur Beurteilung des Schadens auf Seiten der Tiere ist auch wichtig, was mit den Tieren nach dem Ende der Beobachtungen geschehen soll (Tod = schadenserhöhend; Heilung, Pflege und Weitervermittlung in artgerechte Haltungen = schadensmindernd); entsprechende Fragen sind in dem Verordnungsentwurf aber nicht mehr vorgesehen;

• bei transgenen Tiere ist für die Beurteilung der Schadensseite auch wichtig, ob und ggf. mit welcher Wahrscheinlichkeit die Tiere nach dem Ende der Beobachtungen noch Schmerzen, Leiden, Ängste oder Schäden aufweisen werden; auch dazu findet sich in dem Verordnungsentwurf nichts;

• zur Bewertung des Nutzens von Tierversuchen zur Grundlagenforschung gehört (jedenfalls wenn der Versuch für die Tiere den Schweregrad „gering“ überschreitet) auch die Frage nach Art, Ausmaß, Wahrscheinlichkeit und Zeitschiene eines möglichen klinischen Anwendungsnutzens (vgl. dazu u. a. Schweizer Bundesgericht, Urteile v. 7. 10. 2009, 2 C 421/2008 und 2 C 422/08); entsprechende Fragen sind ebenfalls nicht vorgesehen;

• Aspekte wie „Zusatzausbildung der Tierpfleger/Tierpflegerinnen“, „Erfahrungen der Forschergruppe mit derartigen Tierversuchen“ und eine etwaige Bereitschaft der Forscher, den betroffenen Tieren bessere Haltungs- und Pflegebedingungen zu gewähren, als nach Anhang A des Europäischen Versuchstierübereinkommens oder Anhang III der EU-Tierversuchsrichtlinie vorgeschrieben, hätten ebenfalls in den Kriterienkatalog einbezogen werden müssen; auch dies ist nicht geschehen;

• das im Messerli-Institut ursprünglich entworfene komplexe Berechnungsmodell, mit dem der zu erwartende Nutzen und die Schmerzen, Leiden, Ängste und Schäden gegeneinander hätten aufgerechnet werden können, hat ebenfalls keinen Eingang in den Verordnungsentwurf gefunden, obwohl dies für das Ziel der Verordnung, die Schaden-Nutzen-Analyse zu objektivieren, unverzichtbar gewesen wäre.

Unser auf dem Gebiet der Tierversuche mit besonderer Sachkenntnis und beruflicher Erfahrung ausgestattetes Mitglied Kathrin Herrmann hat für uns an der bis zum 11. November 2015 befristeten Anhörung teilgenommen und zu den besonders wesentlichen Gesichtspunkten eine schriftliche Stellungnahme an das Bundesministerium eingereicht.