Vor einem halben Jahr, am 17. Dezember 2020, hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) eine Weichenstellung gegen die betäubungslose Schlachtung im Rahmen des rituellen Schächtens geschaffen (C‑336/19), die aus Gründen des Staatsziels Tierschutz gemäß Art. 20a GG und dem daraus folgenden Optimierungs- und Nachbesserungsgebot im deutschen Tierschutzrecht umzusetzen ist.

Der EuGH hat entschieden, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur Förderung des Tierwohls im Rahmen der rituellen Schlachtung, ohne gegen die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundrechte zu verstoßen, ein Verfahren einer Betäubung vorschreiben können, die umkehrbar und nicht geeignet ist, den Tod des Tieres herbeizuführen. In Betracht kommt danach das religiöse Schlachten unter reversibler Kurzzeitbetäubung

Wir schlagen daher eine gesetzliche Regelung vor, die zwar zur Betäubung des Tieres verpflichtet, aber zulässt, dass diese Betäubung umkehrbar ist und damit nicht den Tod des Tieres herbeiführt und somit den Wesensgehalt von Artikel 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union achtet:

  • 4a Abs. 2 Nr. 2 TierSchG

Abweichend von Absatz 1 ist eine umkehrbare Elektrokurzzeitbetäubung mit einer Mindeststromflusszeit von zwei Sekunden (reversible Betäubung) zulässig, wenn die zuständige Behörde eine Ausnahmegenehmigung für die reversible Betäubung im Rahmen von religiösen Schlachtungen erteilt hat; sie darf die Ausnahmegenehmigung nur erteilen, wenn der Antragsteller nachgewiesen hat, dass

  1. sie nach Art und Umfang erforderlich ist, um den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft den Verzehr von Fleisch unter irreversibler Betäubung geschlachteter Tiere untersagen, und
  2. dass vor, während und nach dem Schlachtschnitt bei dem Tier im Vergleich zu dem Schlachten mit der in Absatz 1 vorgeschriebenen Betäubung keine zusätzlichen Schmerzen oder Leiden auftreten.

Eine solche Neufassung stellt einen verfassungskonformen Ausgleich zwischen dem Grundrecht auf Religionsausübung (Artikel 4 Absatz 2 GG) und dem im Grundgesetz als Staatsziel verankerten Tierschutz (Artikel 20a GG) her. Zwischen der Religionsfreiheit nach Artikel 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Religionsfreiheit nach Artikel 4 GG gibt es keine Unterschiede, die es rechtfertigen würden, das Urteil des EuGH nicht auch auf das deutsche Grundrecht der Religionsfreiheit in Artikel 4 GG anzuwenden.

Der Eingriff in die Religionsfreiheit wird mit einer solchen Regelung lediglich im Hinblick auf einen Teilaspekt des Schächtens, nämlich die betäubungslose Vornahme des Ritus, beeinträchtigt. Es wird nicht das Schächten als gesamter Ritus verboten. Demgegenüber sind die Schmerzen und Leiden, die Tiere durch das betäubungslose Schlachten erleiden, mit dem Staatsziel Tierschutz und dem Gebot, vermeidbare Schmerzen und Leiden zu vermeiden, nicht vereinbar. Die Tiere erleiden massive Ängste, da sie zur Vorbereitung der Schlachtung oftmals unter Gewaltanwendung in für die Tiere unnatürlichen Rückenlagen mit Streckung des Kopfes fixiert werden. Beim Schächtschnitt wird die Halsregion bis zur Wirbelsäule durchtrennt, also auch die Luft- und die Speiseröhre. Dies führt zu starken Schmerzen und in Rückenlage zur Aspiration von Blut oder Mageninhalt und dadurch verursachter Erstickungsangst. Diesen Schmerzen und Leiden sind die Tiere, je nach Tierart, bis zu 45 Sekunden ausgesetzt.

Nach der Rechtsprechung des EuGH führt die betäubungslose Schlachtung zu vermeidbaren Schmerzen und Leiden bei den Tieren. Nach dem Urteil des EuGH vom 26. Februar 2019 (C-497/17) ist „die Anbringung des EU-Bio-Logos auf Erzeugnissen, die von Tieren stammen, die ohne vorherige Betäubung einer rituellen Schlachtung unterzogen wurden, die unter den von der Verordnung Nr. 1099/2009, insbesondere ihrem Art. 4 Abs. 4, festgelegten Bedingungen durchgeführt wurde, nicht gestattet“. Zudem hat in den letzten Jahren eine Steigerung der Wertigkeit des Tierschutzes in der Bevölkerung stattgefunden, die auch der EuGH in seinem jüngsten Urteil hervorgehoben hat. Vor diesem Hintergrund ist das einstige Schächt-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 2002 (1 BvR 1783/99), das ein wesentlicher Grund für die Aufnahme des Staatsziels Tierschutz in das Grundgesetz war, nicht mehr maßgeblich.

Dänemark, Island, Lettland, Liechtenstein, Norwegen, Polen, Schweden, Teile Belgiens, die Schweiz und die Türkei haben bereits eine Betäubungspflicht für das rituelle Schlachten eingeführt. Es ist unabdingbar, dass sich Deutschland dem anschließt.

Die neue Regelung sollte weiter für einen effizienten Tierschutz vorsehen, dass zusätzliche Schmerzen für die Tiere vor, während und nach dem Schächtschnitt ausgeschlossen ein müssen. Dies ist insbesondere nicht der Fall bei Nutzung des sog. Weinbergapparats. Rinder werden hierbei in eine Art Metalltrommel getrieben, dort fixiert und auf den Rücken gedreht. Der Kopf der Tiere wird mit einer Gabel gestreckt, woraufhin der Schächtschnitt erfolgt. Die Tiere zeigen in dieser Situation starke Abwehrreaktionen und große Angst. Insbesondere das Verbringen in Rückenlage stellt für die Tiere eine überaus unnatürliche Position dar, die zu Panik führt. Zudem ist der Schutz vor zusätzlichen Schmerzen vor, während und nach dem Schächtschnitt insbesondere relevant für Tiere, bei denen aufgrund ihrer körperlichen Merkmale die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass auch die Elektrokurzzeitbetäubung nicht ausreicht, um eine völlige Ausschaltung ihres Empfindungs- und Wahrnehmungsvermögens bis zum Eintritt ihres Todes durch Ausbluten sicherzustellen. Dies gilt insbesondere für Rinder. In solchen Fällen muss es bei dem Grundsatz der Betäubung nach § 4a Abs. 1 TierSchG bleiben.

Der Gesetzgeber ist vor diesem Hintergrund und aufgrund des Staatsziels Tierschutz aus Art. 20a GG verpflichtet, das Tierschutzgesetz dahingehend zu ändern.