Am 9.Juni 2010 hat der Leiter des Instituts für Humanbiologie und Anthropologie an der Freien Universität Berlin, Professor Carsten Niemitz, eine von ihm konzipierte Studie mit dem Titel „Was lehrt Unser Charly?“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Frau Alla Gatz,eine Staatsexamenskandidatin am Institut, hat diese Untersuchung durchgeführt. „Unser Charly“ ist eine Familiensendung des ZDF. Seit 1995 sind 15 Staffeln der Serie gezeigt worden. Ein junger Schimpanse spielt die Titelrolle. Er gehört als Mitglied zu der Familie bei der er lebt, trägt Kinderkleidung, vollführt lustige Streiche und verhält sich lieb und freundlich zu den Angehörigen seiner Familie.
Zur Zeit wird die 16. Staffel der Serie in Berlin-Stahnsdorf im Auftrag des ZDF gedreht. Sie soll ab Herbst 2010 gezeigt werden.
Tierschutzorganisationen haben seit vielen Jahren versucht, das ZDF davon abzubringen, immer neue Staffeln dieser Serie produzieren zu lassen, bisher jedoch ohne Erfolg. Die Deutsche Juristische Gesellschaft für Tierschutzrecht ist durch ihr Vorstandsmitglied Marianne C. Fischer auf die Arbeit von Frau Gatz aufmerksam geworden. Sie war bei der Vorstellung der Studie auf Wunsch von Professor Niemitz als offizielle Vertreterin der DJGT anwesend und hat aus Sicht der DJGT insbesondere zu der angesprochenen tierschutzrechtlichen Problematik des Einsatzes von jungen Schimpansen für Filmaufnahmen Stellung genommen.
Die Studie spricht vor allem zwei negative Aspekte der Serie an. Zum einen geht es um das Schicksal der für die Sendung eingesetzten Schimpansen zum anderen um den falschen Eindruck, den die Zuschauer vom Wesen dieser Tiere gewinnen, also um die kritische Betrachtung aus pädagogischer Sicht. Für die DJGT sind insbesondere die Hinweise in der Studie, die Anlass für eine rechtliche Prüfung im Hinblick auf das Tierschutzrecht geben könnten, von Bedeutung.
Dabei geht es u. a. Um die folgenden von Frau Gatz dargestellten Fakten: Die Darsteller des Schimpansenjungen „Charly“ werden etwa im Alter von zwei Jahren ihren Müttern weggenommen und bei einem amerikanischen Tiertrainer aufgezogen und trainiert. Die Frage, wo genau die Schimpansenjungen herkommen, wurde vom ZDF immer nur vage beantwortet. Gleiches gilt für die Auskunft, wie lange die mindesten 11 einzelnen „Charly Darsteller“ für Dreharbeiten eingesetzt waren, in welchem Alter sie vom Set genommen wurden und was danach mit ihnen geschah. In einer Sendung vom 10. Juli 2005 sprach die ZDF Redakteurin Susanne Hillmann diese Themen zwar an, ihre kritischen Fragen wurden jedoch nie beantwortet. So erklärt der amerikanische Tiertrainer Steve Martin, er habe die Charlys zur Zeit in zu kleinen Käfigen untergebracht, wolle aber eine größere Anlage für sie bauen, nur sei ihm das Geld wegen der hohen Anwaltskosten momentan ausgegangen. Die Anwaltskosten seien ihm entstanden, weil er die Klagen von Tierschützern habe abwehren müssen.Ob er die größeren Anlagen in der Zwischenzeit gebaut hat und ob dort alle Charlys aus der ZDF Serie untergebracht sind, ist nicht bekannt. Beweiskräftige Nachweise, wo die einzelnen Charlys abgeblieben sind, konnten weder vom Tiertrainer noch vom ZDF vorgelegt werden.
Die vorliegenden Forschungsergebnisse über das Wesen und das Sozialverhalten von Menschenaffen haben zu der gesicherten Erkenntnis geführt, dass junge Schimpansen das für ihr späteres Leben in der Gruppe unverzichtbare Wissen zu einem entscheidenden Anteil von ihren Müttern und anderen Verwandten erwerben. Weibchen leben meist etwa acht Jahren in dem Familienverband, in dem sie geboren wurden; Männchen verbleiben normalerweise in der Gruppe und pflegen lebenslang enge Beziehungen zur Mutter. Angesichts dieser bekannten Forschungsergebnisse erscheint es ein nicht zu rechtfertigender Umgang mit diesen Tieren, wenn man sie in frühestem Kindesalter von ihren Müttern und anderen Familienmitgliedern trennt. Man nimmt damit bewusst das Leid der Trennung von der Mutter in Kauf, das nach unter Primatenforschern allgemein anerkannten Forschungsergebnissen bei vielen Primaten ähnliche Traumatisierung auslöst, wie sie bei vergleichbarem Geschehen bei Menschen eintreten. Fast noch schwerer wiegt die Tatsache, dass die Schimpansen in ihrer Kindheit während der Zeit bei einem Tiertrainer das richtige Verhalten im Umgang mit ihren Artgenossen und die Regeln für ein Leben in einem Familienverband nicht lernen konnten. Dies ist nach Meinung von Primatologen auch nicht nachholbar, was selbst Tiertrainer nicht bestreiten. Deshalb ist es insbesondere bei Männchen kaum möglich, sie nach Beendigung der Dreharbeiten zusammen mit anderen Schimpansen verhaltensgerecht unterzubringen. Eine Auswilderung oder Abgabe an einen Zoo kommt aus den genannten Gründen ohnehin nicht in Frage. So steht den „ausgedienten“ Charlys ein Leben von etwa vierzig bis fünfzig Jahren in Einzelhaltung bevor. Die Tatsache, dass für die bisher gesendeten 15 Staffeln viele verschiedene „Charly“ Darsteller verbraucht wurden, und dass Schimpansen in freier Natur keine friedlichen, lieben Spielgenossen sind, kann das Publikum durch die verniedlichende Darstellung des Schimpansenjungen „Charly“ als drolliges Familienmitglied nicht erkennen, ebensowenig wie das Leiden der Tiere durch die Wegnahme von ihrer Mutter und ihr Leben nach der Rolle als „Charlys“.
Die Frage, ob das Interesse an einer quotenbringenden „Familiensendung“ das beschriebene Leid der heute in ihrem Bestand gefährdeten Menschenaffen rechtfertigt, wirft in erster Linie ethische Fragen auf. Ob tierschutzrechtlich verfolgbare Tatbestände aus den vorgenannten Umständen abzuleiten sind, wird von der DJGT untersucht werden. Der Vorwurf tierschutzwidrigen Verhaltens bezieht sich dabei nicht auf die Dreharbeiten. In dieser Zeit sind Tierärzte und Sachverständige vor Ort, die im Hinblick auf die Behandlung und Versorgung der Schimpansen bisher nichts zu beanstanden hatten.
Der geschilderte Sachverhalt wurde in den Medien am 10. Juni 2010 detailliert aufgegriffen. In der „Welt“ und der „Berliner Morgenpost Online“ war einen Tag später zu lesen: „Ruprecht Polenz, Mitglied des Fernsehrates, habe erklärt, die 16. Staffel sei auf jeden Fall die letzte. Programmdirektor Bellut wird mit dem Satz zitiert, das ZDF werde keine weiteren Affen ausbilden lassen. Der Pressesprecher des ZDF habe hinsichtlich der Verantwortung für das Schicksal der Schimpansen auf die amerikanischen Tiertrainer verwiesen. Das ZDF habe nicht die Absicht, die Unterbringung der Schimpansen in den USA zu kontrollieren.“ Im Gegensatz hierzu ist die DJGT der Meinung, dass das ZDF als Auftraggeber der Serie eine ethische wie journalistische Verpflichtung hat, zu klären, was aus den bisher eingesetzten Charlys geworden ist und wo der in der 16. Staffel spielende „Charly“ nach Beendigung der Dreharbeiten verbleiben wird.
Ob dem ZDF insoweit auch juristisch Verantwortlichkeit für die angeführten potentiellen Verstöße gegen das Tierschutzgesetz anzulasten ist, wird die DJGT neben den speziellen tierschutzrechtlichen Fragen einer eigenen Prüfungen unterziehen und das Ergebnis öffentlich machen. Solches ist auch präventiv bei möglichem Einsatz anderer Tiere in artwidrigen Spielsituationen in ähnlichen TV-Produktionen wegen gleicher Eingriffe in das individuelle Tierleben erforderlich.
Marianne C. Fischer, Jost-D. Ort